Der marokkanische Himmel war die Tage vor meiner Abreise ungewohnt dunkel. Ich habe mich in den seit Wochen brüllenden Nordwind gestellt und gründlich darunter gelitten, dass weder Spinnen noch eines der übrigen 6 Jurymitglieder mich zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2014 eingeladen hat. Ich behaupte, das Intensivitätsspektrum der menschlichen Gefühle ist beschränkt. Das soll heißen, das größere Drama fühlt sich nicht unbedingt schlimmer an, als das kleinere. Schlimm ist schlimm und manchmal ist es eben schlimmer.
Ökonomisierung
Ouvertüre zur Vorkritik der Klagenfurter 7
Mein Ducato ist bereit für die Fahrt in den Norden. Mustafa III Junior hat eine Woche lang geflext und geschweißt und dem Wagen ein Blau verpasst, das gerade dunkel genug ist, dass man es nicht Babyblau nennen kann und trotzdem so hell, dass der Innenraum unter der Sonne Nordafrikas und Südeuropas nicht zum Backofen wird.
Es läuft nicht so … Darbende Schriftsteller über darbende Schriftsteller

(v.l.n.r.) Jack London, Jack Kerouac, Jörg Fauser und Paul Auster beim „1. Symposium darbender Schriftsteller“; November 2013 in Sidi Ifni/Marokko
Obwohl ich Bücher über Schriftsteller nicht mag, habe ich unter der Markise vor meinem heißen Wagen zuletzt vier Bücher gelesen, in denen es vor allem um Schriftsteller ging. Es waren ziemlich realistische Bücher. Keine Schreibtische mit Blick über die Brookyn-Bridge, keine weißen Blätter, die mit Bedacht in Schreibmaschinen gewalzt werden, keine Ebenholzpfeifen und keine seidenen Bademäntel. Statt dessen Verlegenheitsjobs, Schreibklos, unbeantwortete Manuskripteinsendungen und unbezahlte Rechnungen. Der Plot ist in den Grundzügen immer derselbe: Jemand kämpft darum, Schriftsteller zu sein, beziehungsweise, in seinem Leben reichlich Zeit zum Schreiben zu haben, und es läuft nicht so …
Burkhard Spinnen vs. Jack Kerouac. Oder: Tage der deutschsprachigen Literatur 2013 – Die Jury in der Einzelkritik – Teil 3

Kerouac verpasst Spinnen einen langen Haken mit der Rechten (Collage unter Verwendung eines Filmstills aus Martin Scorsese, „Raging Bull“/ © 2013 Konrad Geyer)
Burkhard Spinnen (hat Zé do Rock und Nadine Kegele eingeladen):
Zu keinem Jurymitglied ist mir vergangenes Jahr so wenig eingefallen, wie zu ihm. Dabei führte Spinnen damals eine interessante Diskussion. Im Zusammenhang mit Leopold Federmairs Aki sagte er, Jack Kerouac würde immer nur behaupten, irre Typen würden irre Sachen machen, aber nie beschreiben, was genau sie tun. „Wir lagen auf dem Bett und redeten über alles Mögliche“ nannte er als Beispiel und erntete dafür reichlich Gelächter.
Über Aufmerksamkeitsökonomie – Bitte sag, dass du mich magst …
«Magst du mich? Bitte sag, dass du mich magst.» Und wie wir alle wissen, gehen 99 % aller zwischenmenschlichen Manipulationsanstrenungen und Anmach-Verrenkungen darauf zurück, dass Aussagen wie diese fast schon als obszön gelten. Tatsächlich gehören solche direkten, gewissermaßen nackten Fragen zu den letzten echten zwischenmenschlichen Tabus, die wir haben. Sie wirken so jämmerlich und verzweifelt.
… schrieb David Foster Wallace in seiner Erzählung “Oktett” aus dem Band “Kurze Interviews mit fiesen Männern” (1999). Wahrscheinlich hat diese Aussage zur Zeit ihrer Veröffentlichung den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber mittlerweile hat Facebook diese “zwischenmenschlichen Tabus” mit Hilfe seines “Gefällt-mir-Buttons” eben mal so standardisiert.
Über Aufmerksamkeitsökonomie – Wenn einer nicht besonders gerne liest …
“Setzten wir, dass man vom 5000. Tag an leidlich mit Verstand zu lesen fähig sei; dann hätte man, bei einem green old age von 20000, demnach rund 15000 Lesetage zur Verfügung. […] Ich möchte es noch heilsam-schroffer formulieren: Sie haben einfach keine Zeit, Kitsch, oder auch nur Durchschnittliches zu lesen: Sie schaffen in Ihrem Leben nicht einmal sämtliche Bände der Hochliteratur!”
(Arno Schmidt: Trommler beim Zaren. 190 f.)
Einen Augenblick nachdem ich über dieses Zitat gestolpert bin, war ich drauf und dran, Arno Schmidt zu meinem Säulenheiligen zu erklären. Einen Haken bei den AGB’s hatte ich schon gemacht. Ich musste nur noch auf „Absenden“ klicken. Im letzten Augenblick habe ich die Notbremse gezogen. Etwas fühlte sich nicht ganz rund an dabei: